veröffentlicht am 29.11.2024 17:01
Lesedauer 4 Min.
Fachartikel
Betriebsführung, Technologien

Mit neuen Schraubkonzepten zu mehr Stabilität und Betriebssicherheit

Mit dem Abschalten der letzten deutschen Kernkraftwerke im Frühjahr 2023 ist der Druck auf die alternative Energiegewinnung in Deutschland gestiegen. Umso wichtiger sind leistungsfähige, effiziente und bezahlbare Windenergieanlagen (WEA) – on- und offshore.
Hytorc

Der 15. April 2023 markiert das Ende einer Ära: Am späten Abend wurden Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 vom Netz genommen, es waren die drei letzten aktiven Atomkraftwerke in der Bundesrepublik Deutschland. Die Grundlage dafür wurde bereits 2011 vom Deutschen Bundestag geschafft. Sie war eine Reaktion auf die verheerende Reaktorkatastrophe in Fukushima. Der Wegfall dieser Energiequelle hat nicht nur zu einer Stärkung der regenerativen Energiegewinnung geführt, sondern viele Innovationen auf den Weg gebracht. Dazu zählen Verbesserungen auf dem Gebiet der Elektrotechnik sowie vor allem in der Verschraubungstechnik. Mit diesen Ansätzen sind zum einen Materialeinsparungen möglich, zum anderen lassen sich deutlich höhere Konstruktionen verwirklichen, was zu einer besseren Auslastung führt. Das beweist ein innovatives Konzept von Verschraubungsexperten aus Deutschland.

Mit der Höhe steigt die Windanfälligkeit

Stabilität spielt im Turmbau die zentrale Rolle: Je höher die Konstruktion, desto größer die Hebelkräfte durch Wind, die auf das Gebilde wirken. Hier stehen die Turmingenieure vor der besonderen Herausforderung, diese Kräfte bei stetig steigenden Leistungen und wachsenden Nabenhöhen sicher ins Fundament zu leiten. Schraubengrößen von M56, M64 und M72 sind oft Standard. Der konventionelle Ringflansch ist auch bei den meisten WEA das Mittel der Wahl. Deshalb wurde untersucht, wie diese Verschraubungen optimiert und so Konstruktionen generell verbessert werden können. Im Blick hatten die am Konzept beteiligten Experten für industrielles Verschrauben auch den Kostendruck, weil jede Verbesserung nur eine Chance auf Umsetzung hat, wenn sie Kostenvorteile für alle Be-teiligten schafft.

Ausschlaggebend für die Stabilität einer WEA sind Lage und Zahl der Verschraubungen zwischen den Segmenten. Ein Weg zu einer besseren Stabilität besteht darin, diese so nah wie möglich an die Außenwand zu schieben, um die Kraftübertragung zu optimieren. Auf dem neuen, größeren Teilkreis wären somit mehr Verbindungselemente möglich, die mit höherer Gesamtvorspannkraft platziert werden könnten. Von außen wirkende Kräfte verteilen sich dementsprechend auf mehr Einheiten, was wiederum eine Entlastung des einzelnen Verbindungselements bedeutet.

Weg vom herkömmlichen System

Verdichtete Verschraubungen eng an einer Wand liegend in einer beengten sowie für die Montage anspruchsvollen Umgebung: Für diese Aufgabe braucht es passende Schraubgarnituren und geeignete Schraubmontageverfahren. Das neu entwickelte Konzept orientiert sich an von der APQP4wind (einer Organisation aus OEMs und Lieferanten der Windindustrie) standardisierten Verbindungselementen: Genutzt werden optimierte Kopfschrauben sowie die Standard ISR-Mutter. Das, da sind sich die Verschraubungsexperten einig, ist eine sinnvolle Kombination, weil sie für ein einfacheres Handling, einen verbesserten Korrosionsschutz und für signifikante Kosteneinsparungen steht.

Zusätzlich optimierte ISR-Muttern reduzieren darüber hinaus die Schlüsselweite deutlich, was die Platzierung der Verschraubung noch näher an der Turmwand ermöglicht. Verschraubt werden sie prozesssicher und kontrolliert mit mobilen, hydraulischen Drehmomentschraubern in den überrelastischen Bereich: Mit einem seit 30 Jahren in der Automobilbranche bewährten Verfahren, das zu minimalen Setzverlusten führt und eine maximale Dauerschwingfestigkeit bietet.

Sicher, schneller und kräfteschonender montieren

Das neue Konzept ermöglicht zudem einen signifikant rascheren Aufbau des Turms. Denn das umständliche Umsetzen der losen Schrauben nach dem Aufeinandersetzen der Turmsegmente entfällt. Bei der herkömmlichen Montage werden die Turmsegmente mithilfe eines Krans auf den Unterbau aufgesetzt: Lose Schrauben in der Flansch erlauben das pass-genaue Aufeinandersetzen. Damit ein Monteur das schwere Werkzeug beim Verschrauben nicht von unten halten muss, werden die Schrauben einzeln und händisch aus dem Flansch herausgezogen, von unten wieder-eingesetzt, um von oben verschraubt werden zu können. Eine umständliche und körperlich anstrengende Tätigkeit, die zudem Zeit kostet.

Daher greift das Konzept die Idee eines Anbieters von Verschraubungslösungen auf, weil sie effektiv und einfach zu nutzen ist: Ein halbautomatischer Montagewagen macht das Umdrehen unnötig. Denn in ihm lassen sich alle benötigten Werkzeuge sicher einspannen, um so die Verschraubungen am Flansch nacheinander, sicher und mit geringem Kraftaufwand gleich von unten anzuziehen. Inklusive Umsetzen des Werkzeuges dauert ein Schraubvorgang etwa 60 Sekunden. So lässt sich ein Flansch mit rund 120 Schraubgarnituren und zwei Montagewagen in einer Stunde verschrauben. Die Vorteile: deutlich kürzere Aufbau- und damit Kranzei-ten pro Turm sowie das deutliche Plus an Arbeitssicherheit bei reduzier-ter körperlicher Belastung des Montageteams.

Kosten im Blick

Das Konzept bringt mehr Stabilität und erlaubt Einsparungen beim Material, schon bei aktuellen Projekten. Denn der Turm ist laut Bundesverband WindEnergie e. V. „für einen großen Teil der Montage- und Transportkosten verantwortlich“. Deutlich schmalere Flansche an den Segmenten – jeweils oben und unten – könnten nicht nur den Einsatz von Stahl reduzieren, sondern auch die Transportkosten aufgrund des geringeren Gesamtgewichts. Die Kosten für eventuell zusätzliche Schraubgarnituren stehen dazu in keinem Verhältnis. Interessanter wird es vor allem aber für zukünftige Projekte: Denn die höhere Stabilität erlaubt auch höhere Konstruktionen, in denen die Windausbeute deutlich größer ist.

Dieser Beitrag erschien im BWE-BerteiberBrief 4-2024.